#menToo
Würde ich meinen autobiografischen Roman "Wie ich vom Weg
abkam, um nicht auf der Strecke zu bleiben" heute erneut schreiben, würde ich den
Inhalt um eine traurige Geschichte ergänzen, die sich vor 25 Jahren in Los
Angeles erreignete. Ich habe bislang niemanden davon erzählt und den Vorfall
längst vergessen - bzw. erfolgreich verdrängt. Durch die #meToo-Debatte sind die
Erinnerungen daran jedoch wieder hochgekommen.
Im Alter von 22 Jahren befand ich mich auf einer Rucksackreise durch Asien, Australien und Amerika. Gegen Ende des mehrmonatigen Trips hatte ich fünf Tage Aufenthalt in Los Angeles. Am zweiten Tag bin ich bis spätabends durch die Stadt gewandert. Zurück wollte ich mit dem Bus. Ich studierte an einer Haltestelle gerade den Fahrplan, als mich ein weißer Amerikaner, der in etwa so alt war wie ich heute, ansprach und fragte, wohin ich müsse. »Venice Beach«, erwiderte ich und fragte, welchen Bus ich dafür nehmen müsste. »Da hätte ich aber großes Glück«, meinte der nette Herr in Anzug und Krawatte. »Er müsse ohnehin in diese Richtung und sein Auto stünde gleich um die Ecke.«
Natürlich hat auch meine Mutter mir eingebläut, nicht zu fremden Männern ins Auto zu steigen oder Süßigkeiten anzunehmen. Doch da war ich ein fünfjähriger Knirps. Nun jedoch überragte ich den hilfsbereiten Amerikaner um einen Kopf - und Schokolade hatte er auch keine dabei. Ginge man nach körperlicher Überlegenheit, müsste er sich vor mir fürchten. Ich bedankte mich und stieg arglos zu ihm in die Limousine. Tja, liebe Kinder - auch wenn ihr längst erwachsen seid, vergesst nie die Ratschläge eurer Mutter.
Wir fuhren natürlich nicht nach Venice Beach, wo sich zwei Blocks hinter dem Strand meine Jugendherberge befand. »Ich muss etwas von zuhause holen. Dauert nicht lange«, meinte er und steuerte in Richtung Berge. Nach einer halbstündigen Fahrt parkten wir vor einer Villa im Hinterland von L.A. Er hätte einen langen Arbeitstag hinter sich und wolle duschen. Ich könne ja mit reinkommen und bei einem Drink auf ihn warten. Why not. »Ob ich auch duschen wolle?«, fragte er während ich durch das Wohnzimmerfenster auf die Lichter der Stadt hinab blickte. Ich war von diesem Ausblick so überwältigt, dass ich kaum bemerkte wie er meine Schulter streichelte. »No thank you!«
Er drückte mir ein Bier in die Hand, lockerte seine Krawatte und ging ins Badezimmer. Ich hockte mich auf ein Sofa und gähnte. Minuten später setzte er sich zu mir - nur mit einem Bademantel bekleidet. Unsere Schenkel berührten sich. Ich rückte etwas ab. »Willst du einen Film gucken?« Ich schüttelte den Kopf und erklärte, ich wäre müde und wolle in meine Unterkunft. Meinen Einwand ignorierend griff er zur Fernbedienung. Ein Blick auf den Porno, in dem keine Frauen mitspielten, genügte selbst mir, damals leider viel zu gutgläubig und naiv, um meine Lage endlich zu schnallen: Ich befand mich in einer Villa mitten im Nirgendwo und der Besitzer wollte mir an die Wäsche.
Der Mann öffnete seinen Bademantel, präsentierte sein Gemächt und griff mir zwischen die Beine. Ich sprang hoch und ließ ihn wissen, dass ich nicht homosexuell wäre - und selbst wenn dem so wäre, wollte ich von hier weg und zwar INSTANTLY! »Wieso ich dann überhaupt mit ihm nach Hause gefahren wäre, wenn ich mich nun so anstelle?«, fragte er tatsächlich. Der Scheißkerl fummelte an meinem Gürtel rum und redete mir ein, dass Männer viel besser im Oralsex wären als Frauen. Das würde er mir gleich beweisen.
Nun war es vorbei mit meiner Freundlichkeit. Ich brüllte ihm meine Meinung und stieß ihn gegen die Brust, dass er zu Boden stürzte. »Take it easy man!«, versuchte er mich zu beruhigen und rappelte sich hoch. Wir könnten ja eine Frau dazu holen, wenn mich das mehr anmache. Er würde nur zugucken. Ein Anruf genüge. >Leck mich doch am Arsch<, wollte ich erwidern, aber das wäre in meiner Situation wohl der falsche Kraftausdruck.
Ich stürmte in den Flur. Den Weg nach Venice Beach würde ich schon finden, auch wenn ich die Nacht durchlaufen müsste. Der Typ stellte mir nach und versicherte mir, dass ich zu Fuß nicht fortkäme. Die Straßen wären hier wie ein Labyrinth. Er entschuldigte sich für seine Aufdringlichkeit und wollte mich nun sofort zur Jugendherberge fahren. Was blieb mir also anderes übrig als erneut ins Auto zu steigen? Mein nächster Fehler...
Nach einer längeren wortlosen Fahrt gelangten wir in eine wohl in keinem Reiseführer erwähnte Suburb: Müll an den Straßenecken und auf Gehsteigen, ein Aufruhr vor einem 24-Stunden-Schnapsladen, schlafende Landstreicher in dunklen Eingängen. Der Fahrer bog auf einen unbeleuchteten Parkplatz ein und kam direkt zur Sache: »Entweder du bläst mir einen oder ich werfe dich raus und du wirst schon sehen, was dir hier blüht!«
Ich habe noch nie Gewalt gegenüber anderen angewendet. Nun bot sich mir der perfekte Anlass dazu. Dennoch unterließ ich es. Ich bin nicht der Typ dazu. »Was kann mich dort draußen Schlimmeres erwarten als hier drin?«, fragte ich und öffnete die Beifahrertür. Der perverse Idiot gab sich dennoch nicht geschlagen. Er zerrte an meinem Shirt. Ich riss mich los. Er sprang aus dem Wagen und versicherte mir über das Autodach hinweg, wie gefährlich es hier für einen Weißen wäre. Dann bot er mir einen fairen Deal an und erklärte mir, was ich zu tun hätte, damit er mich nach Venice fahre. Ich konnte selbst nicht glauben, dass ich ein drittes Mal zu ihm in den Wagen stieg. Meine Angst überwog den Ekel. Es war zwei Uhr nachts, ich befand mich in der Bronx von L.A. und ich wüsste nicht mal in welche Richtung ich mich von hier davonstehlen müsste.
An der ersten Ampel öffnete er die Hose und packte seinen Penis aus. »Now tell me...«, forderte er meinen Part des Deals ein, der darin bestand, eine Sexszene zu schildern und dabei zu stöhnen, während er masturbierte. Ich erfand eine lächerliche Szene und stöhnte wie ein Pornostar. Nach zwei Meilen hatte er sich besudelt. Endlich hatte er was er wollte. Bald wäre ich zuhause. Dachte ich. Stattdessen fuhr er rechts ran, beugte sich hinüber und öffnete meine Tür. »Now get out of here, asshole«. Dann stieß er mich mit der Hand, in die er eben ejakulierte, aus dem Wagen. Um der spermatriefenden Hand, diesem schäbigen Kerl, der verdammten erniedrigenden Situation, in die ich mich durch meine Naivität selbst gebracht hatte, endlich zu entfliehen, stolperte ich auf die Straße.
Ich kam nicht weit, als sich mir vier Latinos in den Weg stellten. Einer zog ein Messer. Ich gab ihnen meine billige Armbanduhr und die zwanzig Dollar, die ich bei mir hatte. Nachdem sie sich überzeugt hatten, dass nicht mehr zu holen war, rieten sie mir mich zu verpissen. In einer Querstraße fand ich eine geöffnete Filiale einer Fastfood-Kette. Bis auf einen älteren Afroamerikaner hinter der Theke war das Lokal leer. Hier fühlte ich mich halbwegs sicher. Ich erklärte dem Mann, dass ich nichts bestellen könne, weil man mir mein Geld geraubt hatte und bat ihn, bis Tagesanbruch ausharren zu dürfen. »No problem«, meinte der Kellner und spendierte mir einen Kaffee.
Man könnte denken, im schlimmsten Viertel einer Millionenstadt von einer Latino-Gang mit einem Messer bedroht und ausgeraubt zu werden, stelle den negativen Höhepunkt jener
Nacht dar. Weit gefehlt. NICHTS fühlt sich schäbiger, gemeiner und schmutziger an als sexuelle Belästigung -
egal in welcher Form und gebenüber wen sie auftritt!