Gehobene Literatur

22.04.2017

Heute mal ein Beitrag zum Thema gehobene Literatur, liebe Amigos. Der folgende Text stammt (leider) nicht von mir, sondern aus einem wunderbaren Roman, den ich gerade lese. Zum Thema Begegnungen schreibt Philip Roth in "Amerikanisches Idyll":

(...) Man kämpft gegen seine Oberflächlichkeit, seine Seichtheit, um ohne irreale Erwartungen, ohne ein Übermaß an Vorurteil, Hoffnung und Überheblichkeit an die Menschen heranzugehen, man versucht sowenig panzerhaft wie möglich zu sein, ohne Kanonen, Maschinengewehre und fünfzehn Zentimeter dicke Stahlpanzerung; man nähert sich ihnen, anstatt den Rasen mit Panzerketten aufzureißen, unbedrohlich auf Zehenspitzen, man lässt sich unvoreingenommen auf sie ein, man behandelt sie als seinesgleichen, von Mann zu Mann, wie wir früher zu sagen pflegten, und doch wird man sie unfehlbar missverstehen. Ebensogut könnte man tatsächlich das Gehirn eines Panzers haben. Man missversteht sie, bevor man ihnen überhaupt begegnet, schon während man daran denkt, ihnen zu begegnen; man missversteht sie, wenn man mit ihnen zusammen ist; und dann geht man nach Hause und erzählt jemand anderem von der Begegnung, und da versteht man sie schon wieder falsch.

Da umgekehrt natürlich das gleiche gilt, ist das Ganze im Grunde nichts als ein blendendes Gaukelspiel, bar jeglichen Verstehens, eine schier erstaunliche Farce aus Missverständnissen. Und doch, wie sollen wir uns denn in dieser furchtbar wichtigen Angelegenheit verhalten, die man 'die anderen Leute' nennt und die jeden Sinns, den wir ihr beilegen, beraubt wird und statt dessen einen Sinn annimmt, der einfach lachhaft ist, so schlecht sind wir alle dafür gerüstet, die inneren Vorgänge und geheimen Absichten des jeweils anderen zu erkennen? Sollen sich denn alle zurückziehen und die Tür verschließen und abgeschieden wie die einsamen Schriftsteller in einer schalldichten Zelle sitzen, Menschen aus Worten formen und dann behaupten, dass diese Wortmenschen der Wirklichkeit näher sind als die wirklichen Menschen, die wir Tag für Tag mit unserer Ignoranz verstümmeln?

Jedenfalls bleibt die Tatsache, dass es im Leben nicht darum geht, Menschen richtig zu verstehen. Leben heißt, die anderen misszuverstehen, sie immer und immer wieder misszuverstehen und sie dann, nach reiflicher Erwägung, noch einmal misszuverstehen. Daran merken wir, dass wir am Leben sind: wir irren uns. Vielleicht wäre es das beste, gar nicht mehr darüber nachzudenken, ob man jemanden falsch oder richtig versteht, und sich einfach treiben zu lassen. Aber wer das kann - das ist wahrlich ein glücklicher Mensch (...)