Ein Tag im Leben eines literarischen Überfliegers mit Triebwerksschaden

05.06.2017

Mein Tag begann nach sechs Stunden Schlaf ohne Wecker um 08:30 Uhr morgens. Und er begann nicht gut. Ich rieb mir die Augen und griff zum Smartphone. Da waren heute schon einige früher wach. Ich tippte auf eine E-Mail einer Leserin mit dem Betreff »Ihr Buch«. Der Inhalt war schnell gelesen, schließlich bestand er nur aus drei Adjektiven: »Überflüssig, Schrott, Enttäuschend!«

Es schien, als hätte ich den Literaturgeschmack der Dame ein klein wenig verfehlt. Ich startete meinen Laptop und hämmerte eine Antwort in die Tasten. Dann las ich den Text Korrektur, waltete Gnade und löschte ihn. Den zweiten Versuch sandte ich ab: »Vielen Dank, dass Sie mein Buch gelesen haben, und Sie sich die Zeit nahmen, mir Ihre Meinung dazu zu schreiben. Da ich versuchen möchte, aus der Kritik meiner Leserinnen und Leser dazuzulernen, würde es mich sehr freuen, wenn Sie mir kurz schreiben könnten, warum Ihnen das Buch (im Gegensatz zu vielen anderen, verdammt nochmal, hätte ich hier zumindest gerne eingefügt) nicht gefallen hat. War es der Inhalt, mit dem Sie sich nicht identifizieren konnten, oder eher der Schreibstil? Vielen Dank und herzliche Grüße aus Spanien, Eduard Freundlinger.«

Eine Antwort darauf blieb aus. Wohl auch besser so. Eine der schwierigsten Aufgaben als Autor ist es, mit Kritik umzugehen. In einer Drei-Sterne-Rezension hatte kürzlich eine Leserin unter anderem bemerkt: »Außerdem scheint der Pilger ein Alkoholproblem zu haben, denn auch nach langen Wandertagen werden literweise Bier und Wein gekippt.« Seitdem habe ich nach jedem Glas Wein ein schlechtes Gewissen. Vielen Dank auch. Da wäre mir der Vergleich zu einem Groschenroman bedeutend lieber gewesen.

Ich und zuviel Alkohol? Wie kommt sie nur darauf, dachte ich, und stellte die leere Weinflasche vom Vortag zu den anderen. Aber erstmal war es ohnehin Zeit für einen Kaffee. Ich ging zu Fuß in die Cafeteria La Hada. Da ich dort nicht zum ersten Mal frühstückte, musste der Kellner meine Bestellung nicht abwarten. Er weiß wie ich meinen Café con leche trinke, und wie meine Tostada de Tomate zubereitet werden muss. Es war 09:30 Uhr und die Cafeteria voll. Die Mütter haben eben ihre Kinder zur Schule gebracht und schnatterten lautstark an den Tischen. Neben mir am Tresen hockten ausschließlich Männer, von denen jeder zweite einen Schwenker Anis oder Cognac vor sich stehen hatte. Ich wünschte, meine Drei-Sterne-Kritikerin wäre hier. Drei Cognacs zum Frühstück nenne ich Alkoholmissbrauch - und nicht zwei Bier nach einer langen heißen Jakobswegetappe, verteidigte ich mich im Stillen, aber doch sehr vehement.

Zurück am Schreibtisch wartete weitere Post. Diesmal zwei freundliche Kommentare von begeisterten Lesern auf Facebook. Geht doch. Dazu noch eine positive Mail vom Verlag. Und eine neue Fünf-Sterne-Rezension auf Amazon für meinen Roman "Wie ich vom Weg abkam, um nicht auf der Strecke zu bleiben". Die inzwischen dreiundachtzigste. Dennoch lagen mir die Begriffe Überflüssig, Schrott, Enttäuschend, so schwer verdaulich im Magen wie eine Zwei-Kilo-Schweinshaxe samt Knochen.

Als Autor hat man sich nicht nur ums Schreiben zu kümmern, man ist in gewisser Weise auch Chef seines eigenen kleinen Verlags. Und die Arbeit rundherum ist beinahe zeitaufwändiger als die eigentliche Schreibarbeit. Nach zwei Stunden Bürokram geht es um 12:00 Uhr an die Seitenproduktion. Man hört im Zusammenhang mit Autoren viel von Schreibblockaden, die einen über Nacht ereilen können. Auch ich fürchte sie wie miese Kritiken. Dabei sind sie nichts als ein Mythos und nur ein weiteres Synonym für Faulheit. Eine Schreibblockade hatte mich in meinen neun Jahren als Autor noch nie geplagt. Immer, aber auch wirklich immer, wenn ich mich vor den Computer setzte, ist mir auch etwas eingefallen. Mal schneller, mal langsamer. Für Faulheit bin ich hingegen etwas anfällig. Vor allem wenn draußen schönes Wetter lockt - was im Süden Spaniens beinahe tagtäglich und ganzjährig der Fall ist. Deshalb braucht es Disziplin. Und das ist bei mir so eine Sache. Würde ich mich diszipliniert ernähren oder diszipliniert Sport treiben, läge mein BMI nicht im roten Bereich. Mangels eines Chefs braucht es daher klare eigene Schreibvorgaben.

Meine lautet: Pro Tag fünf Seiten zu schreiben. Das dauert bei mir je nach Kreativität zwischen zwei und vier Stunden. Also selbst mit Mangel an Disziplin, Motivation und Konsequenz gut umzusetzen. Bei zwei freien Schreibtagen pro Woche ergibt das 25 Seiten/Woche, 100 Seiten/Monat - und einen ganzen Roman in drei bis vier Monaten! Theoretisch jedenfalls. Praktisch fällt schon mal der eine oder andere Tag aus und dann ist da ja noch das Überarbeiten. Das dauert bei mir in der Regel länger als das Schreiben der erstmal flott hingeschriebenen Rohfassung. Heute übertraf ich jedoch mein Pensum und schrieb 6,5 Seiten an meinem neuen Projekt. Ich speicherte den Text ab, sicherte ihn in wie einen neuen Harry Potter-Band in Clouds, externen Festplatten und Sticks, und guckte auf die Uhr: 15:45 Uhr. Ich checkte mein Smartphone und grinste. Privat läuft es fantastisch. So wie bereits in den vergangenen Tagen habe ich heute schon wieder drei Dates. Welche? Keine Ahnung. Diese Updates macht mein Handy automatisch.

Mein elektronischer Kalender piepste und erinnerte mich an meinen nächsten Termin: Fitnessstudio. Der kreative Teil meines Großhirns war vom Schreiben noch auf Standby und lieferte mir sofort fünf sehr vernünftige Gründe, diesen Termin auf morgen zu verschieben. Ich ließ mich überzeugen. Also stattdessen Mittagessen und danach eine kurze Siesta, schließlich war der Tag noch lange nicht vorbei.

Am Abend antwortete ich auf die tagsüber eingegangene Leserpost oder die Beiträge auf Facebook. Zudem lege ich die drei Krimis meiner Spanien-Thriller Trilogie gerade als Sonder-Edition neu auf. Vor dem Hochladen müssen die Dateien auf Fehler in der Formatierung überprüft werden. Heute war Band 2 dran, in dem ich durch die Übertragung in ein anderes Format verloren gegangene Absätze und kursive Passagen im Text neu einfügte. Danach erstellte ich noch den vorliegenden Blogeintrag. Um drei Uhr morgens klappte ich den Laptop zu und blickte in den Spiegel. Man könnte meinen, meine Alkoholproblem-Kritikerin hätte richtig geraten: Meinen geröteten Augen zufolge könnte man durchaus auf den Konsum einer ganzen Wodkaflasche tippen. Dabei hatte ich nur 16 Stunden auf einen Bildschirm gestarrt. Zum Glück sind es von meinem Arbeitsplatz zum Bett nur fünf Meter.

Das war mein Tag. Enttäuscht? Sicherlich habt ihr euch den Arbeitstag eines Autors etwas aufregender vorgestellt. Nun ... das habe ich vor meiner Berufswahl leider auch getan. Aber zum Glück sollte gleich der nächste Tag um einiges illustrer verlaufen ...

Schon die erste Mail war der Hammer: Mein aktueller Roman wurde in die Longlist des deutschen Buchpreises 2017 aufgenommen! Damit war nun wirklich nicht zu rechnen. Ich stürzte an den Laptop, um diese frohe Botschaft mit meinen 4000 besten Amigos auf Facebook zu teilen, blieb aber an einer privaten Nachricht einer Leserin hängen: »Ich habe dein Buch gelesen und würde dich sooo gerne persönlich kennenlernen. Darf ich dich in Spanien besuchen, damit du mir dein Buch signierst?« Der Text ist mit einem Dutzend roten Herzen umrahmt. Ich klickte auf ihr Profilfoto. OMG. Da gab es nichts zu überlegen. »Natürlich kannst du mich in Spanien besuchen!«, schrieb ich zurück und fügte gleich einen Google-Maps-Link zu meinem Schlafzimmer an. Nach so einem Kickstart fiel sogar das Rechnungen zahlen einfach. Ich loggte mich in mein Bankkonto ein, um die Miete zu überweisen, aber was zum Teufel ... Dabei konnte es sich nur um einen russischen Hackerangriff handeln!

Allerdings um einen gutwilligen. Mein Bankkonto wies 200.000 Euro mehr auf als am Vortag - also 200.027,14 Euro. Eine weitere Mail klärte mich auf: Mein Verlag hatte diese Summe als Vorschuss für meinen neuen Roman überwiesen. Und das alles noch vor dem Frühstück. Es lief perfekt! Wenn da nur dieses Summen nicht wäre. War das im Kopf? Etwa chronisch und bliebe nun für immer so? Und wieso wurde es immer lauter? Ich schlug die Augen auf. Mein Handy vibrierte sich in Richtung Nachtkästchen-Abgrund. Mierda!

Übellaunig stellte ich die Verbindung her. Mein Handyprovider verkündete, dass die letzte Rechnung von meiner Bank zurückgesendet worden war. Wahrscheinlich wegen unzureichendem Saldo. Ob ich gleich mit Kreditkarte bezahlen möchte? »Nooo!«, sagte ich und kappte die Verbindung, ehe ich Mistkerl auf Spanisch hinzufügte. Willkommen in der Realität. Und die wird nach diesem schönen Traum leider erneut so aussehen wie gestern - nur mit dem Unterschied, dass ich dann am Abend und die halbe Nacht die Texte meiner neuen Webseite ins Spanische übersetzen muss, ehe sie Online geht.

Aber ... irgendwann geht es dann ab in die Bestsellerlisten und auf Lesereisen mit Unterkünften in noblen Hotels - bald treten Ruhm & Geld, Glanz & Gloria in mein Leben ... und falls nicht, war es zumindest ein schöner Traum - und andere Realitäten zu ersinnen zählt schließlich zur Hauptaufgabe eines Autors ...